Testosteron & Hypogonadismus

Eine Testosterontherapie macht aggressiv?

Aggression und Testosteron

Aggression ist die Absicht, sich selbst oder einer anderen Person zu schaden, die dies vermeiden möchte. Diese Handlungen können impulsiv (spontane Reaktionen in Form von körperlichen oder verbalen Übergriffen) oder instrumentell (einschließlich passiver Aggression mit längerfristiger Zielsetzung) sein und sind in der Regel mit negativen Folgen verbunden. Obwohl Aggression ein evolutionäres Merkmal ist und vielleicht eines, das wir alle gelegentlich erleben, ist es nicht überraschend, dass es kein Verhaltensmuster ist, durch das die meisten Menschen definiert werden möchten!

Wenn es um Aggression geht, wird auch Testosteron erwähnt. Im Laufe der Jahrzehnte ist Testosteron zu einem Synonym für Aggression geworden: Ob es darum geht zu erklären, warum Männer aggressiver sind als Frauen oder warum manche Männer aggressiver sind als andere, ein „höherer Testosteronspiegel“ ist wahrscheinlich die häufigste Antwort, die Sie hören. Hinzu kommt, dass die häufigen Berichte über „Roid Rage“ unter Bodybuildern und Steroidkonsumenten die allgemeine Vorstellung verfestigt haben, dass alles, was den Testosteronspiegel erhöht, sie aggressiver macht.

Wenn man davon hört, dass eine Testosteronersatztherapie (TET/TRT) zur Behandlung eines Testosteronmangels eingesetzt wird, machen sich einige Patienten Sorgen über eine gesteigerte Aggressivität. In diesem Artikel wollen wir jedoch erklären, warum dies nicht automatisch der Fall ist.

Die Datenlage für TET und Aggression

Dank der modernen Wissenschaft wurde in vielen Studien untersucht, ob die Verabreichung von Testosteron Aggressionsmarker verändert. In diesen Studien wird eine Gruppe von Teilnehmern untersucht, die zum Beginn der Studie in der Regel niedrige Testosteronspiegel aufweisen. Veränderungen der Aggression der Teilnehmer nach TET werden mittels Selbstberichten oder Verhaltensmerkmalen gemessen.

Die bisher aussagekräftigste Studie ist eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von 14 experimentellen Studien, in der man zu dem Ergebnis kam, dass TET die Aggression insgesamt nicht wesentlich verändert.1 Da in den eingeschlossenen Studien trotz der Verwendung sehr unterschiedlicher Methoden ähnliche Effektstärken (oder fehlende Effekte) berichtet wurde, ist es unwahrscheinlich, dass ein „wahrer Effekt“ unter bestimmten Bedingungen übersehen wurde (z. B. bei einer bestimmten Dosis, Häufigkeit oder Art der Verabreichung). Selbst in Studien, in denen supraphysiologische Testosterondosen (200–600 mg wöchentlich) verwendet wurden – das heißt, Dosen, die weit über dem liegen, was die meisten Menschen jemals einnehmen würden –, wurden ebenfalls von keinen signifikanten Veränderungen in Bezug auf Aggression oder Wut berichtet.2,3 Bei Männern mit niedrigem Testosteron zu Studienbeginn wurde in einer dieser Studien sogar eine geringere Aggression nach Testosterontherapie festgestellt.2

Diese Position wird auch von neueren Bildgebungsstudien des Gehirns unterstützt. Hierbei zeigte sich, dass eine Testosterontherapie die funktionellen Teile des Gehirns, die für Empathie verantwortlich sind (die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu verstehen und zu teilen), nicht verändert.4 Zwar handelt es sich nicht direkt um Aggression, aber Empathie ist zweifellos eine soziale Emotion, die die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person aggressiv handelt, stark beeinflusst. Da es also kaum Belege dafür gibt, dass die Testosterontherapie einen primären Risikofaktor für Aggression (Empathie) und die Aggression selbst beeinflusst, geben die meisten Forschungsergebnisse in dieser Hinsicht keinen Anlass zur Sorge.

Davon abgesehen lohnt es sich, wie bei vielen Therapien, individuell unterschiedliche Reaktionen zu berücksichtigen, auch wenn es in einer Gruppe keine durchschnittlichen Veränderungen gibt. So wurde in einer Studie bei 121 gesunden männlichen Erwachsenen zwar keine durchschnittliche Veränderung der Aggression festgestellt, doch führte die Testosterontherapie bei einem geringen Teil der Teilnehmer mit Eigenschaften wie hoher Dominanz und geringer Selbstkontrolle zu einem aggressiveren Verhalten.5 In einigen Forschungsarbeiten wird derzeit versucht, potenzielle Persönlichkeitsprofile zu ermitteln, die anfälliger für bestimmte Reaktionen, wie eine erhöhte Aggression, auf Testosterontherapie sind. Doch selbst bei diesen Personen würde TET ein bereits vorhandenes hohes Level an Aggressivität beeinflussen und nicht Aggression an sich verursachen.6

Was ist mit Steroiden und „Roid Rage“?

Es stimmt: Es gibt gute Belege dafür, dass Anabolika die Aggressivität nach eigenen Angaben erhöhen. „Roid Rage“ kein Hirngespinst.7 Allerdings ist die Effektgröße gering und hängt stark von der Dosis ab. Nur wenn Anabolika in hohen Mengen eingenommen werden, besteht für einige Personen, wenn auch nur für eine Minderheit, die Gefahr, dass sich ihre Persönlichkeit und Stimmung erheblich verändern. Sie haben vielleicht schon ein paar schockierende Geschichten über Anabolikakonsumenten gehört, die gewalttätiges und kriminelles Verhalten zeigten, aber diese Fälle sind äußerst selten und sollten nicht als Allgemeinplatz verstanden werden.

Was bei solchen Debatten oft untergeht, ist die Tatsache, dass die Einnahme (oder der Missbrauch) von Anabolika nicht mit TET unter ärztlicher Überwachung verwechselt werden sollte. Viele anabole Steroide sind nicht nur sehr wirksam und stammen aus „Untergrundlaboratorien“mit zweifelhaften (wenn überhaupt vorhandenen) Sicherheitsstandards, sondern sie werden in der Regel auch in Dosen eingenommen, die 10- bis 100-fach so hoch sind wie die natürliche Testosteronproduktion oder die üblicherweise verwendeten Dosen bei TET.

Außerdem ist bezüglich „Roid Rage“ zu bedenken, dass 1) Anabolika möglicherweise vornehmlich Männer mit aggressiveren Persönlichkeiten ansprechen und 2) die meisten nicht experimentellen Studien über Steroidgebrauch und Aggression Teilnehmer umfassen, die eher zu aggressivem Verhalten neigen, wie Drogenkonsumenten, Straftäter, Gefangene, Polizisten, Sicherheitsdienstmitarbeiter und Türsteher von Nachtclubs. In der bisherigen Steroidforschung ging es nicht so sehr darum, ob ruhige und besonnene Leute in der örtlichen Kneipe eine Schlägerei anfangen, sondern eher darum, ob Personen mit Persönlichkeitsmerkmalen oder Berufen, bei denen Aggression im Mittelpunkt steht, aggressiver werden. Daher ist es schwer zu sagen, wie viel von der „Roid Rage“ auf die Anabolika selbst zurückzuführen ist und wie viel ein unerwünschtes Beiprodukt der Menschen ist, die Steroide einnehmen (oder deren Einnahme untersucht wird).

Wird die Gesamtsituation falsch dargestellt?

Ein sehr frustrierender Aspekt der Behauptung, dass TET die Aggression steigert, ist, dass sie von den allgemein positiven Auswirkungen auf die psychische Gesundheit ablenkt. Bei Patienten mit Testosteronmangel gibt es zahlreiche Belege dafür, dass eine Testosterontherapie depressive Symptome, Erschöpfung und Lebensqualität verbessert.8–10 Diese Informationen sollte man genauso oft, wenn nicht sogar häufiger, hören anstelle der wissenschaftlich nicht fundierten Angstmacherei vor Aggression. Für viele ist die Entscheidung, eine TET zu beginnen, eine positive und möglicherweise lebensverändernde Entscheidung. Wenn Sie Bedenken wegen aggressiven Verhaltens unter der Testosterontherapie haben, empfehlen wir Ihnen, diese mit Ihrem Arzt zu besprechen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Es ist erwiesen, dass TET die Aggressivität nicht erhöht.
  • Selbst bei potenziell gefährdeten Personen beeinflusst TET wahrscheinlich eher ein bereits vorhandenes hohes Maß an Aggressivität, anstatt es zu verursachen.
  • TET hat im Allgemeinen positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, insbesondere bei Männern mit niedrigem Testosteronspiegel.
  • Der systematische Missbrauch von Anabolika (einschließlich des Missbrauchs, der zu„Roid Rage“ führt) unterscheidet sich völlig von TET, die unter ärztlicher Überwachung durchgeführt wird.

Quellen


1. Geniole SN, et al. Epub 2019; 123: 104644.

2. O’Connor DB, et al. Physiol Behav 2002; 75(4): 557–66.

3. Tricker R, et al. J Clin Endocrinol Metab 1996; 81(10): 3574–8.

4. Andrei AP, et al. Compr Psychoneuroendocrinol 2022;10:100134.

5. Carre JM, et at. Biol Psychiatry 2017; 82(4): 249–256.

6. Geniole SN, et al. Psychol Sci 30(4): 481–494.

7. Chegeni R, et al. Psychopharmacology 2021; 238(7): 1911–1922.

8. Walther A, et al. JAMA 2019; 76(1): 31–40.  

9. Ferreira MDA, Mendonca JA. Drugs Context 2022;11:8–12.

10. Rosen RC, et al. J Sex Med 14(9); 1104–1115.

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